Eine Region zwischen Wohlstand und Warnzeichen – wenn High-Tech auf Personalnot trifft
Es ist ein Paradox, das selbst erfahrene Wirtschaftslenker staunen lässt: Ausgerechnet in einer der wirtschaftlich stärksten Regionen Deutschlands herrscht akuter Personalmangel. Während im Bodenseekreis und im südlichen Schwarzwald international erfolgreiche Konzerne ihre Innovationskraft unter Beweis stellen, bleiben Tausende von Arbeitsplätzen unbesetzt. Der Fachkräftemangel hat die Region fest im Griff – und die Zahlen sind alarmierend.
86 Prozent aller deutschen Unternehmen kämpfen mittlerweile um qualifizierte Mitarbeiter, wie die aktuelle ManpowerGroup-Studie belegt. Deutschland führt damit das weltweite Ranking an und übertrifft den globalen Durchschnitt von 74 Prozent deutlich. Doch was bundesweit bereits dramatisch erscheint, spitzt sich in der Region Bodensee-Oberschwaben und im Schwarzwald-Baar-Kreis zu einem regelrechten Wirtschaftskrimi zu.[1]
Die Zahlen sprechen eine klare Sprache
Dr. Sönke Voss, Hauptgeschäftsführer der IHK Bodensee-Oberschwaben, bringt die Dimension auf den Punkt: „Schon heute bleiben über 13.000 Stellen unbesetzt, bis 2035 könnte sich diese Zahl auf bis zu 21.000 deutlich erhöhen“. Bei einer Region mit rund 317.000 Beschäftigten entspricht das einem dramatischen Aderlass.[2]
Die Ursache liegt auf der Hand: Bis 2035 werden rund 82.000 Beschäftigte in den Ruhestand gehen – die geburtenstarken Jahrgänge der Babyboomer verlassen den Arbeitsmarkt. Ihnen stehen aber nur etwa 12,5 Millionen junge Menschen als Arbeitskräftepotenzial gegenüber, wie das Institut der deutschen Wirtschaft prognostiziert.[3][4]
Im benachbarten Schwarzwald-Baar-Kreis sieht die Lage nicht besser aus. Bereits 6.000 Fachkräfte fehlen heute, und die Prognosen sind düster: Bis 2030 könnten es 24.000 sein. „Noch vor einigen Jahren hatten wir teilweise über hundert Bewerbungen auf eine Stelle, heute manchmal sogar weniger als fünf“, berichtet die Stadtverwaltung Villingen-Schwenningen.[5][6][7]
Wenn Wohnen zum Luxus wird
Doch der Personalmangel hat einen weiteren, oft übersehenen Verstärker: die explodierenden Wohnkosten. In Konstanz liegt die Durchschnittsmiete bei 17,05 Euro pro Quadratmeter, für eine 30-Quadratmeter-Wohnung werden sogar 18,13 Euro fällig. Zum Vergleich: Der bundesweite Durchschnitt liegt bei 17,48 Euro.[8]
„Wenn Auszubildende zwischen 600 und 1000 Euro verdienen, können sie keine 500 Euro für ein Zimmer aufbringen. Das ist nicht machbar“, erklärt ein Vertreter der städtischen Wohnungsbaugesellschaft WOBAK. Die Konsequenz: Ein spezielles Azubi-Wohnheim wird gebaut, mit Mieten zwischen 300 und 350 Euro – etwa ein Drittel günstiger als ein WG-Zimmer in Konstanz.[9]
Diese Entwicklung trifft eine Region, die eigentlich alle Voraussetzungen für wirtschaftlichen Erfolg mitbringt. Die Bodenseeregion verfügt über 27 Hochschulen mit rund 115.000 Studierenden, eine internationale Industriestruktur und eine der niedrigsten Arbeitslosenquoten Deutschlands. Dennoch wandern viele Absolventen nach dem Studium ab – meist in die Metropolregionen.[10]
Branchen im Würgegriff
Besonders dramatisch ist die Lage in den technischen Berufen. In absoluten Zahlen gemessen besteht der größte Mangel bei Maschinen- und Fahrzeugtechnikberufen, Elektroberufen sowie in der Metallbearbeitung. Aber auch andere Sektoren leiden: Verkaufsberufe, Verkehrs- und Logistikberufe, Berufe in der Unternehmensführung und das Gesundheitswesen sind massiv betroffen.[2]
Die Corona-Pandemie hat diese Entwicklung noch verstärkt. Während die Nachfrage nach IT-Sicherheitsexperten, Softwareentwicklern und Cloud-Engineers stark ansteigt, bleiben gleichzeitig traditionelle Ausbildungsberufe unbesetzt. Im Gesundheitswesen verschärft der demografische Wandel die Situation zusätzlich: Mehr Pflegebedürftige treffen auf weniger Pflegekräfte.[11]
Verheerender wirtschaftlicher Schaden
Der IHK-Fachkräftemonitor prognostiziert für Bodensee-Oberschwaben Wertschöpfungsverluste von bis zu 9,6 Milliarden Euro bis 2035 – weil Aufträge nicht umgesetzt oder Dienstleistungen nicht erbracht werden können.[3]
Landesweit steht Baden-Württemberg vor ähnlichen Herausforderungen. Bis zu 170 Milliarden Euro Wertschöpfung sind in Gefahr, warnen die Industrie- und Handelskammern. „Der Standort Bodensee-Oberschwaben bietet nach wie vor großes wirtschaftliches Potenzial“, betont Dr. Voss. „Trotz geopolitischer Unsicherheiten, hoher Energiepreise und strukturellen Wandels entwickeln sich viele Branchen positiv.“ Mit ausreichend verfügbaren Fachkräften könnten bis 2035 sogar rund 3.000 zusätzliche Arbeitsplätze entstehen.[2]
Lösungsansätze zwischen Innovation und Pragmatismus
Die Region wehrt sich nicht tatenlos gegen diese Entwicklung. Unter dem Motto „Karriere im Süden“ haben sich die Landkreise Konstanz, Bodensee, Ravensburg und Lindau zusammengeschlossen. Ziel ist es, hochqualifizierte Absolventen für die Region zu gewinnen und Kontakte zu lokalen Unternehmen herzustellen.[12]
Besonders innovativ ist der Ansatz, internationale Fachkräfte gezielt anzuwerben. Die Jobmesse-Reihe „Contact – Jobs and more“ bringt Zugewanderte und Flüchtlinge aus aller Welt mit regionalen Unternehmen zusammen. „Wir sind sehr froh, dass die Messen eine so gute Resonanz haben“, sagt Irina Wöhler, Leiterin des IHK-Welcome Centers.[13]
Auch die Ausbildung wird neu gedacht. Im Schwarzwald-Baar-Kreis setzt man auf moderne Ausbildungskonzepte und bessere Work-Life-Balance. „Eine familienfreundliche Arbeitsorganisation sollte die Bedürfnisse von Müttern, Vätern und Angehörigen mit Pflegeverantwortung berücksichtigen“, betont Henriette Stanley von der regionalen Fachkräfteallianz.[14]
Digitalisierung als Chance und Herausforderung
Gleichzeitig nutzen Unternehmen die Digitalisierung als Hebel gegen den Personalmangel. Künstliche Intelligenz und Automatisierung können Arbeitsprozesse optimieren und den Fachkräftebedarf teilweise kompensieren. Doch paradoxerweise verstärkt die digitale Transformation den Mangel an IT-Spezialisten, Data Analysts und Cybersecurity-Experten noch weiter.
„Wir haben eine zarte Hoffnung auf bessere Geschäfte“, fasst Christoph Münzer, Hauptgeschäftsführer des WVIB (Schwarzwald AG), die aktuellen Konjunkturaussichten zusammen. Fast 30 Prozent der badischen Industriebetriebe rechnen in den nächsten sechs Monaten mit steigenden Umsätzen – ein Hoffnungsschimmer in schwierigen Zeiten.[15]
Ein Weckruf für Politik und Gesellschaft
Der Fachkräftemangel in der Region Bodensee und im südlichen Schwarzwald ist mehr als nur ein wirtschaftliches Problem – er ist ein Indikator für gesellschaftliche Verwerfungen. Wenn eine der erfolgreichsten Regionen Deutschlands nicht genügend Menschen findet, die dort arbeiten können oder wollen, dann stimmt etwas Grundsätzliches nicht.
Die Lösung liegt nicht in einer einzelnen Maßnahme, sondern in einem Bündel aus besserer Ausbildung, internationaler Zuwanderung, bezahlbarem Wohnraum und attraktiveren Arbeitsbedingungen. Die Zeit drängt: Bereits 2024 waren 10 Millionen Erwerbspersonen im Alter von 55 bis 64 Jahren aktiv – sie alle werden in den nächsten Jahren den Arbeitsmarkt verlassen.[16]
Die Region am Bodensee und im südlichen Schwarzwald steht an einem Scheideweg. Entweder gelingt es, den demografischen Wandel zu meistern und neue Fachkräfte zu gewinnen – oder eine der wirtschaftsstärksten Regionen Deutschlands riskiert ihren Wohlstand. Diese Entscheidung fällt jetzt.
Quellen
ManpowerGroup-Studie Fachkräftemangel 2025 [1]
IHK Bodensee-Oberschwaben – Pressemitteilung [2]
IHK-Fachkräftemonitor 2035 Baden-Württemberg [3]
Institut der deutschen Wirtschaft – Babyboomer gehen in Rente [4]
Südkurier – Fachkräftemangel im Schwarzwald-Baar-Kreis [5]
Wirtschaft im Südwesten – Schwarzwald-Baar-Heuberg [6]
Schwarzwälder Bote – 24.000 fehlende Fachkräfte [7]
Wohnungsbörse.net – Mietspiegel Konstanz 2025 [8]
SWR – Azubi-Wohnheim Konstanz [9]
DenkRaumBodensee – Brain Drain am Bodensee [10]
IQB Karrieremagazin – Fachkräftemangel 2025 [11]
Landratsamt Konstanz – Fachkräfteprojekte [12]
IHK Bodensee-Oberschwaben – Contact-Jobmessen [13]
Staatsanzeiger – Jobs for Future Villingen-Schwenningen [14]
Staatsanzeiger – Wirtschaft zwischen Krise und Hoffnung [15]
REIF.org – Demografischer Wandel [16]
IAB-Prognose für 2024/2025 [17]
DIHK Report Fachkräfte 2024/2025 [18]
1. manpowergroup.de
2. ihk.de
3. ihk.de/fachkraeftemonitor
4. iwd.de
5. suedkurier.de
6. wirtschaft-im-suedwesten.de
7. schwarzwaelder-bote.de
8. wohnungsboerse.net
9. swr.de
10. denkraumbodensee.org
11. iqb.de
12. lrakn.de
13. ihk.de/contact
14. staatsanzeiger.de
15. staatsanzeiger.de
16. reif.org
17. iab.de
18. dihk.de
19–76. Weitere Quellen siehe Originalartikel und Fachportale der IHK, DIHK, IW Köln und Bundesministerien.